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Von Juliane Lauterbach und Elisabeth Jessen


Hamburg. Diskussionsrunde beim Abendblatt zu Long Covid: Tausende Hamburger leiden unter schwersten Symptomen. Hausärzte seien uninformiert.

Tausende Betroffene leben in Hamburg mit schweren und zum Teil schwersten Folgen von Corona. Dennoch hat vor wenigen Monaten die letzte Long-Covid-Ambulanz geschlossen. Wie geht es nun weiter? Wie können die Long-Covid-Patientinnen und -Patienten am besten versorgt werden? Und wo?

Um diese und andere Fragen zu klären, hat das Hamburger Abendblatt zu einem runden Tisch eingeladen. Teilgenommen haben Claudia Loss, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Dr. Maria Hummes vom Hausärzteverband-Hamburg e.V., Professor Michael Stark, der in seinem Institut in Eimsbüttel seit Jahren zu Erschöpfungssyndromen forscht, und Torsten Donner, dessen Frau (50) nach einer Corona-Infektion vor zwei Jahren schwer erkrankte.

Corona Hamburg: Long Covid – runder Tisch mit Experten und Betroffenen

Mit dabei war zudem Paula Büttelmann (28), die ebenfalls betroffen ist und stellvertretend für die Patientenorganisation NichtGenesen Hamburg spricht. Weil ihre Kraft für längere Wege nicht reicht, war sie bei der Gesprächsrunde online zugeschaltet. Das ebenfalls geladene Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) wollte leider nicht teilnehmen, da die Präsenz womöglich „falsche Hoffnungen bei Patienten, Patientinnen und Angehörigen wecken würde“, hieß es vonseiten des UKE.

Hamburger Abendblatt: Long Covid, Post Covid, Fatigue Syndrom – viele wissen nicht, was genau dahintersteckt und sind wohl auch einfach froh, dass das Thema Corona vorbei ist. Aber ist es das wirklich?

Maria Hummes: Natürlich ist es nicht vorbei. Im Schnitt betreut jede Hausarztpraxis nach wie vor zehn Long- oder Post-Covid-Patienten. Allerdings sind durch die gestärkte Immunabwehr in den vergangenen anderthalb Jahren kaum noch schwere Verläufe hinzugekommen.

Michael Stark: Corona hat sich nicht erledigt. Nach unseren Berechnungen haben in Hamburg mit etwa 80.000 Betroffenen etwa zehnmal so viele Menschen Long Covid wie etwa Multiple Sklerose. Und es kommen durchaus noch neue und schwere Fälle hinzu.

Was für Auswirkungen hat Long Covid auf das Leben der Betroffenen?

Paula Büttelmann: Ich habe die schwerste Form von Long Covid – ME/CFS (siehe Info-Box), das chronische Fatigue Syndrom. Als ich erkrankte, war ich 26 Jahre alt. Seit rund zwei Jahren kann ich meine Wohnung kaum noch verlassen, nicht mehr studieren, bekomme eine Grundsicherung und brauche im Alltag Unterstützung.

Torsten Donner: Auch meine Frau ist betroffen, leidet ebenfalls an ME/CFS. Sie ist an unsere Wohnung gefesselt, kann nicht mehr arbeiten, ist nicht mehr belastbar. Es ist fürchterlich. Zudem haben wir mehrere Zehntausend Euro für Behandlungen bezahlen müssen, weil dafür keine Kasse aufkommt. Es ist ein Desaster.

Was versteht man unter Long Covid, Post Covid, Post-Vac und ME/CFS?
Treten länger als vier Wochen nach einer Corona-Infektion Beschwerden auf, spricht man von Long Covid. Halten Sie länger als zwölf Wochen an, ist von Post Covid die Rede. Gemeinsam ist den meisten vom Long/Post-Covid-Syndrom Betroffenen, dass Symptome oder Beschwerden bestehen, die eine behandlungswürdige Einschränkung der Alltagsfunktion und Lebensqualität bewirken und einen negativen Einfluss auf das Sozial- und/oder Arbeitsleben haben.
Die Symptome können vielseitig sein: von Beschwerden der Lunge, des Kreislaufsystems und der Muskulatur, über Probleme bei der kognitiven Leistung (Konzentration, Merkfähigkeit) und Erschöpfungszustände bis hin zu Angstzuständen und Depressionen. Zudem gibt es auch Betroffene, die nach einer Corona-Impfung erkranken – hier spricht man von Post-Vac.
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom – kurz ME/CFS – ist eine nach Virusinfekten auftretende schwere neuroimmunologische Erkrankung, welche die schwerste Ausprägung von Long Covid darstellt und oft zu einem hohen Grad körperlicher und kognitiver Behinderungen führt. Mit ME/CFS geht einher, dass sich die Symptome schon nach geringer körperlicher oder kognitiver Anstrengung verstärken.

Die letzte Corona-Ambulanz in Hamburg hat vor wenigen Monaten geschlossen, obwohl die Wartelisten lang waren. Wie stellt sich die Versorgungslage in Hamburg dar?

Donner: Die Versorgungslage ist desolat. Und da hilft es auch nicht, dass die Stadt nun an die Hausärzte verweist, die an erster Stelle zuständig sein sollen. Fakt ist, dass die Patientinnen und Patienten in den Praxen viel zu häufig auf nicht informierte Ärzte treffen. Die machen, verkürzt gesagt, ein großes Blutbild, sehen keine Auffälligkeiten und schicken ihre Patienten mit keiner oder – noch schlimmer – mit falscher Diagnose nach Hause. Ich kenne Betroffene, die eine Bewegungs-Reha machen sollten. Das ist fatal. Wer die Krankheit auch nur in Ansätzen verstanden hat, der weiß, dass Anstrengung zu Verschlechterungen führt.

Long-Covid-Betroffene: Viele kritisieren, dass sie als „Psycho“ abgestempelt werden

Büttelmann: Ich kenne solche Fälle auch, insbesondere auch über das bundesweite Netzwerk #NichtGenesen, in dem ich aktiv bin. Besonders schlimm ist es auch, wenn die Betroffenen als „Psycho“ abgestempelt werden.

Also sind die Hausärzte vielleicht doch die falsche Adresse?

Hummes: Nein, ich würde sagen, dass Covid-Patienten zu einem großen Teil sehr gut aufgehoben sind in der hausärztlichen Versorgung. Es können diverse unterschiedliche Symptome auftreten, die erst einmal im Gesamten gesehen werden müssen.

Donner: Aber es darf einfach nicht sein, dass Betroffene mit einer „Depression“ nach Hause geschickt werden, nur weil man im Blutbild nichts sieht.

Hummes: Ja, das wäre natürlich falsch. Aber es ist auch falsch, die Psyche nicht mitzudenken. Unser Krankheitsverständnis ist ja, dass wir immer ein biopsychosoziales Zusammenspiel haben. Da spielt die psychische Stabilität eben auch eine Rolle.

Was sollten die Hausärzte denn konkret leisten können?

Büttelmann: Zuallererst ist es dringend notwendig, dass die Hausärzte sich fortbilden. Das ist so wichtig, um den Patienten essenzielle Methoden wie Pacing zu vermitteln. Das ist ein Konzept, um mit unserer Energie zu haushalten, um nicht über unsere Belastungsgrenze hinauszugehen. Es ist das A und O dafür, dass die Erkrankung nicht schlimmer wird. Ich habe davon leider erst zu spät und nicht vom Hausarzt, sondern in einer Selbsthilfegruppe erfahren.

Stark: Nicht nur die Hausärzte, sondern auch die Gutachter – zum Beispiel vom sozialmedizinischen Dienst – sind entscheidend. Denn es gibt immer noch welche, die einfach sagen: „Ich glaube nicht, dass es das gibt.“ Dabei sind ihre Gutachten entscheidend dafür, wenn es um Therapien, Rentenzahlungen oder um Hilfsmittel geht.

Corona Hamburg: Long Covid – „brauchen eine Ambulanz“

Hummes: Ich erachte die sozialmedizinische Unterstützung als sehr wichtig. Das ist das, was erst mal schnell Druck herausnimmt. Also bei den Anträgen für Rente, Pflegegrad, Leistungen der Krankenkassen etc. zu helfen. Wir haben viele dieser Aufgaben, die primär Sozialarbeiter tätigen, übernommen. Denn sind die Patienten schwer betroffen, können sie das nicht mehr allein.

Eine neue Richtlinie aus Berlin sagt, dass zunächst der Hausarzt zuständig ist, dann der Facharzt und für besonders schwere Fälle eine Spezialambulanz – die es aber in Hamburg nicht gibt. Warum ist eine Ambulanz wichtig?

Büttelmann: Für Tausende Betroffene in Hamburg muss es eine Stelle geben, in der informierte Menschen wissen, wie man mit dieser Erkrankung umgeht. Wichtig ist eine Ambulanz auch, weil die Krankenkassen eine Krankenbescheinigung oder andere Belege nur von einer Uniklinik-Ambulanz akzeptieren. Dass nicht transportfähige Menschen für eine Untersuchung und Bescheinigung in eine andere Stadt geflogen werden müssen, so wie es schon passiert ist, kann nicht der richtige Weg sein.

Loss: Das stimmt. Wir brauchen eine Ambulanz und werden da politisch nun auch Druck machen, sobald die Richtlinie beschlossen worden ist. Und eigentlich kommt aus Sicht vieler in Hamburg nur das UKE infrage, da viele Fachbereiche abgedeckt werden müssen und eben auch Forschung betrieben werden kann.

Angehöriger von Long-Covid-Patientin kritisiert mangelndes Basiswissen

Donner: Ich habe große Zweifel, dass das UKE der richtige Ansprechpartner sein kann. Meine Frau hatte sich dort in einer Selbsthilfegruppe vorgestellt und sollte als Schwerstbetroffene vor Ort erst mal einen 20-seitigen Fragebogen ausfüllen. Das ist für schwer Betroffene nicht möglich. Es war, das muss man so klar sagen, noch nicht mal Basiswissen vorhanden.

Loss: Es ist die einzige Uniklinik, die wir als Stadt haben. Aber natürlich steht und fällt die Qualität einer solchen Ambulanz mit den handelnden Akteuren.

Stark: Ich habe mehrfach angeboten, dass ich den Aufbau beratend begleiten kann. Oder dass mein Institut gerne an das UKE angedockt werden könnte. Aber ich kann es nicht vorfinanzieren. Und einen Zugriff auf die Forschungsgelder, die für die Long-Covid-Forschung von der Regierung zur Verfügung gestellt wurden, haben leider nur die Kliniken.

Wie kann denn überhaupt zweifelsfrei festgestellt werden, dass es Long oder Post Covid ist und nicht etwa eine Depression?

Stark: Offiziell gibt es keine Marker, die Long Covid nachweisen. Also zählt man Symptome auf und kommt so zu der Diagnose. In meinem Forschungsinstitut, in dem wir seit Jahrzehnten zu dem Thema ME/CFS forschen (Anm. d. Red.: ME/CFS gab es infolge anderer Infektionen auch schon vor Corona), haben wir aber tatsächlich solche Marker ausmachen können. Wir können also sehen, ob jemand depressiv ist oder ME/CFS hat.

Was ist das für ein Verfahren?

Stark: Wir messen die Regulationsfähigkeit unseres autonomen Nervensystems, unserem allem zugrunde liegenden Gefahrenabwehrsystem. Das finden wir bei allen unseren Patienten extrem erhöht, ist also permanent unter Spannung. Da habe ich jetzt privat über ein Crowdfunding Forschungsgelder beantragt und habe ein paar Tausend Euro bekommen – und jetzt haben wir die ersten Ergebnisse, die sehr vielversprechend sind.

Long Covid: Stand jetzt ist die Erkrankung nicht heilbar

Hummes: Aber was sagen uns diese Werte, wenn man davon keine Behandlung ableiten kann? Natürlich können wir unendlich viele Laborwerte nehmen, aber sie müssen dann auch Konsequenzen haben. Stand jetzt ist Long Covid nicht heilbar. Aber wir können alle notwendigen Maßnahmen verordnen, die zu einer Verbesserung der Symptomlast beitragen, etwa Physiotherapie, Ergotherapie, Manualtherapie, Schmerztherapie – alles aufbauend und an individuelle Leistungsfähigkeit angepasst.

Stark: Natürlich haben die unterschiedlichen Biomarker erst mal einen diagnostischen Wert, von dem man aber durchaus auch Handlungen ableiten kann. Von den Werten hängt ab, welche Therapien infrage kommen. Sind etwa Auto-Antikörper betroffen, kann eine Blutwäsche sinnvoll sein, sind die Entzündungswerte hoch, sollten entsprechende Medikamente versucht werden.

Was würde den Betroffenen derzeit am meisten helfen?

Donner: Wir brauchen Angebote, die für Betroffene erreichbar sind. Und das kann eben auch heißen, dass es Onlineangebote von Ärzten gibt, die den Therapieweg begleiten – oder eben Hausbesuche. Professor Stark bietet solche Onlineformate an, die man abrufen kann, wenn man die Kraft dafür hat. So etwas brauchen wir viel mehr.

Loss: Wir müssen es vor allen Dingen schaffen, die Beratungsangebote unter anderem für chronisch erkrankte Menschen, die wir in unserer Stadt haben, mehr nach außen zu tragen. Viele wissen gar nicht, was für Angebote es gibt. Ich glaube, dass das auch ein großer Punkt ist, an dem wir weiter arbeiten müssen. Ich denke zum Beispiel an Beratung in den Pflegestützpunkten zu Pflege und Rehabilitation, die „Patientenberatung Hamburg“ von Ärztekammer und KVH oder aber auch an spezialisierte Sprechstunden für einzelne Symptombereiche bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder in Krankenhäusern.

Corona Hamburg: Long Covid – Forscher wirbt für „Lotsendienst“

Hummes: Eine qualifizierte Anlauf- und Beratungsstelle, die auch online verfügbar ist, wäre auf jeden Fall sehr wichtig.

Stark: Aus meiner Sicht bräuchte es in Hamburg eine Art Lotsendienst – also eine feste Kontaktnummer und konkret geschultes Personal, das die Betroffenen berät. Denn die Erkrankten haben nicht die Kraft für zehn Termine irgendwo, um festzustellen, dass es immer die falsche Adresse war.

Büttelmann: Da stimme ich zu. Und an erster Stelle braucht es eben eine Ambulanz, in der die Menschen wirklich informiert sind. Und wir brauchen Hilfe in Form von medikamentösen Therapien, die bald zugelassen werden sollen. Hier müssten die Hausärzte dringend informiert werden, damit sie diese auch verschreiben. Die Tausenden schwer Erkrankten in Hamburg sind darauf angewiesen, dass man sich um sie kümmert und dass es mehr Forschung gibt, damit es irgendwann auch heilende Therapien geben kann.